Kapitel Sechs
Als Kate nach Hause kam, fand sie Reed fast völlig vergraben unter hohen Stapeln von Papieren, die er, wie er sagte, ordnen wollte. Es sah aber eher aus, als baute er sich ein Nest, um darin Winterschlaf zu halten.
»Andere Leute«, sagte Kate und ließ sich in einen Sessel fallen, »nehmen sich dafür einen Buchhalter oder Steuerberater oder, wenn es gar nicht anders geht, einen Bruder, wie ich es tue.«
»Das habe ich mir auch überlegt«, sagte Reed und begutachtete, sichtlich erstaunt, eine Quittung. »Also, wieso habe ich geglaubt, ich könnte das von der Steuer absetzen?« grübelte er und legte das Stück Papier von dem einen Stoß auf einen anderen. »Ich bin sogar so weit gegangen, einen Steuerberater zu befragen, der den Ruf hat, seinen Klienten mehr Steuern zu sparen, als seine Rechnung nachher ausmacht. Aber dann habe ich gemerkt, daß ich ihm das ganze Zeug zusammenstellen muß, und das ist ohnehin die schlimmste Arbeit dabei; und wenn dann diese Finanzcomputer meinen Steuerbescheid auf ihre unfair-willkürliche Weise ausgespuckt haben, müßte ich trotzdem noch eine ganze Woche lang vier Stunden am Tag mit den Finanzbeamten zubringen, weil ich mir einfach nicht leisten kann, den Steuerberater dafür auch noch zu bezahlen. Theoretisch mag meine Arbeitsstunde soviel wert sein wie seine, aber nicht in Bargeld. Warum also, habe ich mich gefragt, soll ich überhaupt einen Steuerberater bezahlen? Da wir gerade bei unbezahlten Arbeitsstunden sind, wie war dein Abend?«
»Wenn du es wirklich wissen willst, erzähle ich es dir. Die Geschichte beginnt mit dunklen Eingangshallen, geht weiter mit Wachhunden, die Stechuhren drücken, und endet schließlich leicht emotionsgeladen mit einem Gespräch mit Angelica Jablon. Wie richtet man einen Hund dazu ab, mit seiner Pfote auf irgendeinen Gegenstand zu drücken? Bevor du antwortest oder ich es dir erzähle, brauche ich etwas zu essen. Ich weiß nicht, warum ungewöhnliche Abenteuer, wenn sie erst einmal vorüber sind, so einen Heißhunger bei mir auslösen; wahrscheinlich eine nervöse Reaktion.« Gemeinsam gingen sie in die Küche, und während Kate herumhantierte, erzählte sie ihm vom Verlauf des Abends.
»Soweit ich weiß«, warf Reed an einer Stelle ein, »drücken sie nicht mit der Pfote die Stechuhr, sondern sie stellen sich mit beiden Vorderpfoten auf dieses Ding, das dann auf ihr Gewicht reagiert.«
»Glaubst du wirklich, die merken, wenn jemand da ist, auch wenn er sich in einem Schrank versteckt hat?« fragte Kate.
»O ja, das glaube ich schon. Hunde mit feinem Geruchssinn und scharfem Gehör haben da keine Schwierigkeiten – es sei denn, der Schrank hätte die Größe eines kleinen Baseballfeldes.«
»Haben denn nicht alle Hunde einen feinen Geruchssinn?«
»Das ist unterschiedlich. Bluthunde sind am besten. Salukis, Afghanen und Wolfshunde haben zweifellos sehr scharfe Augen, um in der Wüste über große Entfernungen gut sehen zu können, aber ihr Geruchssinn ist kaum besser als der einer herumschnüffelnden Ehefrau, die ihren Mann verdächtigt, vor nicht allzu langer Zeit ein Bier getrunken zu haben.«
»Was du alles weißt. Ich vermute, es gibt auch einen Grund, warum sie paarweise arbeiten.«
»Zu zweit sind sie viel schwerer zu täuschen, viel bedrohlicher und mächtiger. Ein Einbrecher könnte versuchen, vielleicht, wenn er an einem Kronleuchter hängt, auf einen Hund zu schießen, aber bei zweien lohnt sich das wohl kaum. Welche Schlüsse ziehst du aus deinem Gespräch mit Angelica?«
»Sie war viel zu müde, um überhaupt etwas zu sagen.
Ich nehme an, sie war froh, daß ich gekommen bin, aber sie war wirklich fertig. Der Großvater macht die Sache so kompliziert; er ist wohl so eine Art Vaterfigur in der Familie, und die Kluft zwischen den Generationen ist nicht nur eine Kluft, sondern ein ganzer Canyon.«
»Ich dachte, Großeltern und Enkelkinder kämen so gut miteinander zurecht, ohne die üblichen Probleme, die Eltern und Kinder immer miteinander haben.«
»Ich glaube, das trifft nur dann zu, wenn es auch Eltern gibt. In dem Fall verbünden sich Großeltern und Enkelkinder gegen einen gemeinsamen Feind. Wenn dagegen Großeltern die Elternrolle übernehmen, funktioniert auf einmal dieses fröhliche Bündnis nicht mehr. Ich weiß nicht, um wen man sich mehr Sorgen machen muß, um Angelica und ihren Bruder oder um die Schule. Es sieht so aus, als hätte Miss Tyringham ohnedies schon genügend Probleme.«
»Aber dies gehört doch alles zu ein und demselben Problem, diesem verdammten, entsetzlichen Krieg. In welcher Lage war denn eigentlich der Junge?«
»Mehr oder weniger in der gleichen wie Jack. Zumindest soweit ich weiß, obgleich es zweifellos Unmengen von unterschiedlichen Details gibt; das ist schließlich immer so.«
»Nun, du warst bestimmt eine Hilfe«, sagte Reed, »und vielleicht können sie und ihr Bruder sich hier verstecken, wenn es nötig ist. Wir können deinen Neffen zurückholen, der sicher auch noch ein paar Freunde in gleicher Lage hat, und dann kann uns die Regierung alle zusammen verhaften, weil wir Jungs, die sich vor der Army drücken, Obdach geboten haben. Tut mir leid, du hast gesagt, du haßt Leute, die allem etwas Positives abgewinnen.«
Kate, die hungrig ihre Rühreier verschlang, streckte ihm die Zunge heraus.
Am nächsten Tag kam Angelica zum Seminar und schien in guter Verfassung zu sein, auf dem Plan stand die Frage des Gehorsams – Gehorsam dem Staat oder einem Vater gegenüber auf der einen Seite, sich selbst oder göttlichen Gesetzen gegenüber auf der anderen Seite; Kate tat es leid, daß dieses Thema gerade jetzt anstand. Sie nutzte ihre drei Minuten, um eine rechtswissenschaftliche Abhandlung von Daube zu besprechen, in der es um die Frage ging, wo anhand von drei großen antiken Beispielen die Pflicht zu Gehorsam gegeben ist: bei Orest, der auf Apollos Befehl seine Mutter tötet und von den Eumeniden verfolgt wird; bei den fünfzig Töchtern des Danaos, die auf Befehl ihres Vaters in der Hochzeitsnacht ihre Ehemänner töten und so in den Konflikt zwischen Gehorsam gegenüber dem Vater oder Aphrodite geraten (die Mädchen schienen diesen Fall sehr ausführlich diskutieren zu wollen, doch Kate bestand auf ihrer Einleitung und zog die Zeit der Diskussion von ihren drei Minuten ab; für diesen Zweck hatte sie sich sogar eine Stoppuhr zugelegt); und Antigone, im Zwiespalt zwischen Kreons Befehl und dem Gebot der Religion und der Liebe zur Familie.
Leider, fuhr Kate fort, machte die Erkenntnis, daß das Problem des Ungehorsams älter war als erwartet, die Entscheidung, wo die Pflicht eines Menschen läge, nicht leichter. Und genau darum ging es im griechischen Drama, wenn nicht im Leben allgemein; vielleicht galt es, Antigone sogar besonders hervorzuheben, da sie jedenfalls richtiger gehandelt hatte als Orest und die Danaiden, abgesehen von der einen der fünfzig, die Gefallen an ihrem Bräutigam gefunden und ihn nicht umgebracht hatte. Falls es jemanden interessiert, meinte Kate mit einem Seitenblick auf den Sekundenanzeiger, ihr Name sei Hypermnestra.
Während der ganzen Zeit wirkte Angelica fast wie immer, höchstens ein wenig stiller. Die anderen gingen das Thema mit gewohnter Lebhaftigkeit an; Irene und Elizabeth vertraten die Meinung, Ismene habe durchaus recht, da sie, wie Antigone, eine Frau war; es sei nicht ihre Aufgabe, Befehle zu erteilen oder ihnen zuwiderzuhandeln. Kate wäre gern näher auf diesen Gesichtspunkt eingegangen, hätten sich nicht die anderen mit so viel Energie auf Irene und Elizabeth gestürzt. So hatte sie alle Hände voll zu tun, die Ordnung wiederherzustellen.
»Und wie steht es mit Antigones Argument, daß sie nie einen anderen Bruder haben kann, ihm deswegen mehr schuldet als einem Ehemann oder Kind, die im Fall des Todes ja ersetzbar wären«, fragte Angelica.
»Wirklich, eine ungeheuerliche Vorstellung«, sagte Alice.
»Und obendrein falsch«, sagte Freemond, die anerkannte Griechisch-Autorität, »wenigstens sagt das Jebb, obgleich Aristoteles sie zitiert; die Auffassungen gehen da ziemlich weit auseinander. Fest steht, daß die ganze Geschichte nicht viel Sinn ergibt und eher eine jesuitische Argumentation ist, ganz anders als Antigones sonstige Äußerungen, die direkt und unkompliziert sind; ich hoffe, ich habe dich nicht gekränkt, Elizabeth.«
»Ich finde das gar nicht so kompliziert«, sagte Angelica. »Antigone sagt meiner Meinung nach, daß eine Frau jedermanns Ehefrau oder Mutter sein kann, aber nur die Schwester ihres Bruders. Das ist die wohl einzige von den Göttern verfügte Rolle der Frau im alten Griechenland, und deshalb fühlte sie sich ihrem Bruder rückhaltlos verpflichtet.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, aber vielleicht hatte Kate sich das auch nur eingebildet. Nach kurzem Zögern lenkte Kate die Diskussion wieder auf den Konflikt zwischen dem Gesetz des Staates und dem Gebot des Gewissens zurück. Aber das war nicht nur ein Thema für griechische Dramatiker. Sokrates gehorchte eher seinem Gott als den Athenern, Jeanne d’Arc ihren Stimmen und Thomas More seinem Glauben. Die Nürnberger Prozesse haben genau diesen Punkt behandelt, und auch der Fall des Soldaten, der in einer Demokratie den Befehl erhält, in eine Menge demonstrierender Pazifisten zu feuern, ist nicht so neu, wie man annehmen möchte. Soll er dem Gesetz des Militärs gehorchen oder dem Gesetz des Landes?
»Alles läßt sich auf die Liebe zurückführen, nicht wahr?« fragte Irene. »Sie konnte ja genausowenig eine andere Schwester bekommen, oder?«
»Aber die Seele ihrer Schwester war nicht in Gefahr«, sagte Freemond. »Und es gibt Leute, die meinen, sie hat Ismene nicht an ihrem Schicksal teilhaben lassen, um ihr Leben zu retten.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Alice. »Sie wollte nur die Ehre für sich allein.«
»Was ist denn so Ehrenvolles daran, zu Tode gesteinigt oder in einem Gewölbe eingemauert zu werden?«
»Wenigstens ist es nicht langweilig«, seufzte Alice mit dem Weltschmerz, zu dem nur sehr junge und sehr alte Menschen fähig sind.
Es folgten heftige Diskussionen, und Kate wartete darauf, daß Angelicas Bruder zur Sprache käme oder wenigstens die Frage des zivilen Ungehorsams im Zusammenhang mit dem Krieg in Vietnam; doch das Seminar ging zu Ende, ohne diesen empfindlichen Punkt zu berühren. Kate kam zu dem Schluß, daß sich die Mädchen der aktuellen Bedeutung der ›Antigone‹ durchaus bewußt waren und aus Mitgefühl für Angelica diesen Punkt nicht angesprochen hatten.
Kate saß noch im Seminarraum und überlegte, ob sie Angelica suchen sollte, als ein kleines Mädchen an die Tür klopfte und ihr mit dem Knicks der Theban-Schülerin eine Nachricht übergab. Kate dankte dem Kind; die Nachricht kam von Miss Freund, die Kate bat, so schnell wie möglich in ihr Büro zu kommen. Bestimmt, dachte Kate, haben die Hunde wieder jemanden aufgestöbert.
Aber es waren nicht die Hunde. Es war Miss Strikeland. Der alte Mann war ihr wieder in der Eingangshalle aufgefallen, und gemäß Anordnung hatte sie Miss Freund benachrichtigt. Die begrüßte Kate nun in ihrem Büro und stellte ihr den alten Herrn vor, den Kate schon früher beobachtet hatte. Er hatte nicht nur den Hut abgenommen, sondern heute, wahrscheinlich auf Miss Freunds Einladung, auch den Mantel ausgezogen. Er war konservativ und teuer gekleidet; er strahlte eine unendliche Traurigkeit aus. Ein Mensch, dem weniger zuzutrauen wäre, daß er junge Mädchen belästigte, war kaum vorstellbar.
»Miss Fansler«, sagte Miss Freund, »dieser Herr ist Angelica Jablons Großvater. Er macht sich Gedanken um die Schule, obwohl wir ihn, wie ich ihm gesagt habe, mit Vergnügen herumgeführt hätten…«
»Sie haben doch alle zu tun«, sagte der Mann.
»Zu unserer Arbeit gehört es auch, Eltern und Großeltern in unserer Schule zu begrüßen. Wie dem auch sei, als ich Mr. Jablon heute in mein Büro bat, fragte er schließlich, ob er Sie sprechen könnte, Miss Fansler.« Ihr etwas skeptischer Tonfall machte ihre Meinung zu Mr. Jablons Verhalten nur zu deutlich. Ihm war es gelungen, die üblichen Wege zu umgehen. Kate war geneigt, ihr zuzustimmen. Ihre erste Reaktion war, so gab sie später Reed gegenüber zu, egoistisch und unverzeihlich: Als jemand, der nicht gerade großzügig für die Leitung eines Seminars bezahlt wurde, schien sie höchst ungewöhnliche Gespräche im Namen des Theban führen zu müssen. Dann fragte sie sich, ob sie es hier nicht wieder mit dem selbstgerechten Patriotismus und Konservativismus ihrer Brüder zu tun bekam, der die ›Times‹ für radikal hielt, und so weiter und so fort. Mit den eigenen Brüdern war es schon schwierig genug, mußte man wirklich das alles mit alten Männern durcharbeiten, die schließlich das Recht auf ihre eigene Meinung hatten – wenn sie die nur für sich behielten.
»Selbstverständlich«, sagte sie, »aber wo…?«
»Ich gehe ohnehin jetzt zum Lunch«, sagte Miss Freund. »Sie können mein Büro benutzen. Sollte jemand nach mir fragen, sagen Sie, ich käme später wieder.«
Kate nahm mit einem unbehaglichen Gefühl auf Miss Freunds Stuhl Platz und hoffte, das würde ihr eine gewisse Autorität verleihen. Sie kam sich schrecklich dumm vor.
»Ich sollte Ihnen nicht die Zeit stehlen«, sagte Mr. Jablon, »aber sehen Sie, ich versuche so sehr zu begreifen. Mir kommt es vor, als sei die Jugend in diesem Land verrückt geworden, sie hat…« Mr. Jablon wurde lauter, doch fing er sich wieder und machte dabei den Eindruck eines Menschen, der sich mit Mühe daran erinnert, daß er gekommen ist, um Fragen zu stellen, nicht um Urteile abzugeben. Kate dachte an den Satz von Marianne Moore: »Die Leidenschaft, andere Menschen belehren zu wollen, ist schon für sich genommen ein quälendes Leiden.«
»Wollten Sie etwas Bestimmtes von mir wissen«, holte Kate ihn zurück. Schließlich konnte Mr. Jablon die Probleme der heutigen Jugend ja mit jedem am Theban erörtern, vorzugsweise mit jemandem mit festem Gehalt.
»Es geht um das Stück, das Sie besprechen; Angelica hat mir davon erzählt. Sie sagte, daß es dieselben Probleme schon bei den alten Griechen gegeben hat. Ich hatte nie die Zeit, etwas über die Griechen zu lernen, aber ich wollte immer, daß meine Kinder das tun und auch meine Enkel, wenn sie Lust dazu hätten. Sie schienen so wichtig, die Griechen. Und nun stelle ich fest, daß Ihr Stück eine Entschuldigung für Vaterlandsverrat ist und daß die Heldin ein Mädchen ist, dessen Vater seinen Vater ermordet und seine Mutter geheiratet hat und deren Mutter zugleich auch die Großmutter ist. Ist das wirklich große Kunst?«
Er klang so aufrichtig empört, daß Kate nicht wußte, wie sie darauf reagieren sollte. Es war ein Gespräch, das man recht amüsant hätte wiedergeben können – die todernste Nacherzählung berühmter hochdramatischer Theaterstücke ist bekanntermaßen urkomisch. Dennoch fehlte hier das witzige Element. Mr. Jablon hielt Ödipus nicht nur für einen alten Lüstling, nein, er war auch unglücklich darüber.
»Das war Vorherbestimmung«, sagte Kate. »Schicksal. Die Griechen sind der Meinung, daß der Mensch seinem Schicksal nicht entrinnen kann.«
»Aber genau das scheinen all diese jungen Leute mit ihren schmutzigen Kleidern und ihrer Aufsässigkeit zu wollen; sie versuchen, ihrem Schicksal zu entrinnen, das da heißt: arbeiten, ihre Eltern und das Vaterland respektieren und etwas lernen.«
Kate seufzte. »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte sie. »Wenn sie, wie die Hippies, nur für den Augenblick leben, was werden sie tun, wenn sie vierzig sind?«
»Ja«, sagte er. »Ja. Sie sollten sich vorbereiten.«
»Aber das ist Ihre Vorstellung von Schicksal, nicht die der jungen Leute. Ödipus glaubte, seinem Schicksal entgehen zu können…«
»Und sie glauben, vor dem ihren davonlaufen zu können.«
»Nein. Sie glauben, die Jungen liefen vor dem davon, was Sie für ihr Schicksal halten. Aber es gibt keine Orakel mehr, die uns sagen, was uns bestimmt ist oder was den Göttern gefällt. Es gibt keinen Tiresias mehr. Wissen Sie, das Stück, das Angelica studiert, ist in diesem Jahrhundert neu geschrieben worden, in vielen Punkten ähnlich, aber ohne einen Tiresias. Es gibt heute niemanden, der uns sagen kann, was die Wahrheit ist.«
»Es ist schwer, alt zu sein«, sagte der Mann. »Mein Enkel, der Junge, der hier gefunden wurde… früher hat er manchmal mit mir geredet, und er hat mir eine Zeile von Dante zitiert, einem anderen großen Schriftsteller, den ich nie gelesen habe: ›Ich starb nicht, und dennoch blieb mir nichts vom Leben.‹ Das trifft es genau.«
»Mir scheint, es bleibt sehr viel«, warf Kate ein. »Ihre Enkelkinder, Ihre Gesundheit. Sie haben genug Geld. Diese Dinge scheinen nur dann unzureichend, wenn man sie besitzt, meinen Sie nicht auch?«
»Wofür ist Geld heutzutage gut? Dafür, daß meine Enkelin zur Schule geht und lernt, die Autorität zu verhöhnen? Dafür, daß mein Enkel den Dienst in der Armee seines Landes verweigert? Dafür, daß sie sich gegen ihre eigene Regierung verschwören? Aber auch in kleinen Dingen: Ich kann abends nicht mehr Spazierengehen, wie ich will; ich werde überfallen. Auch tagsüber kann ich nicht Spazierengehen, ohne daß mir von den Abfällen auf den Straßen übel wird. Die Luft ist nicht zum Atmen. Ich besitze einen Wagen, einen teuren Wagen, aber auf den Straßen gibt es keine Parkplätze, was nützt er mir also? Ich kann mit ihm nirgendwohin fahren. Wenn die Menschen noch nach den alten Prinzipien lebten…«
»Kennen Sie die?«
»Jeder kennt die. Die Jugend behauptet nur, sie nicht zu kennen. Sie…«
Wieder unterbrach sich der alte Mann. Er wurde langsam ärgerlich. »Es kann einfach nicht richtig sein, das Vaterland zu verraten.«
»Ist das Wort ›verraten‹ nicht übertrieben? ›Verrät‹ man eine Demokratie, wenn man mit der gewählten Regierung nicht einer Meinung ist?«
»Angelica hat mir erzählt, daß es einige Mädchen hier gibt, die den Krieg unterstützen wollten und niedergeschrien wurden. Darauf war sie sogar stolz.«
»Das ist verkehrt, keine Frage. Das ist, und hier bin ich Ihrer Meinung, Verrat. Aber mit einer Politik nicht einverstanden zu sein ist kein Verrat. Wissen Sie, wen Dante in den untersten Kreis seiner Hölle verbannt hat?« Das war keine rhetorische Frage, und Kate wartete auf eine Antwort. Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Die, die statt ihres Landes ihre Freunde verraten haben.« Der alte Mann zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, daß ihn das nicht überraschte. Die Erziehung, die er sich für seine Kinder gewünscht hatte, erwies sich als Illusion. Weder die Moderne noch die Antike hielt sich an die ewigen Werte.
Kate blickte hoch und sah, daß sich die Augen des alten Mannes mit Tränen gefüllt hatten – den hilflosen Tränen des Alters. Er schwieg, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte; er sah sie nicht an.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, fuhr Kate nach einer Weile fort. »Ich halte die ›Antigone‹ für ein großartiges Stück. Wir sind nicht einer Meinung, was die ewigen Werte angeht. Ich bin nicht sicher, ob ich an ewige Werte glaube, abgesehen von der Tatsache, daß der Mensch nur unter großen Opfern lernt und daß es keine einfachen Antworten gibt.«
»Das ist eine bemerkenswerte Schule«, sagte der alte Mann. »Ich habe ein paar Tage in der Eingangshalle zugebracht und nur beobachtet. Ja, es ist alles sehr unauffällig, aber gut geführt, gut organisiert. Es ist eben eine alte Schule.«
»Ja«, sagte Kate. »Für eine amerikanische Schule ist sie recht alt.«
»Es ist immer eine Schule für die besten Kreise gewesen«, sagte er. »Ich weiß das. Und nun ist meine Enkelin hier. Das ist Amerika.«
»Ja«, sagte Kate.
»Ich bin Jude«, sagte der alte Mann. »Wissen Sie, wie ich in dieses Land gekommen bin?«
»Ich weiß nur ganz allgemein etwas über diese Dinge«, sagte Kate. Aber, dachte sie, er und meine Brüder verteidigen mit gleicher Heftigkeit das, was sie Amerika nennen. Dabei finden meine Brüder zweifellos, Amerika habe einen Fehler gemacht, indem es die Juden hereinließ. Patriotismus schafft seltsame Allianzen.
»Mein älterer Bruder, er war fünfzehn damals, kam hierher und verdiente das Geld für unsere Überfahrt. Für meinen Vater, meine Schwester und mich; meine Mutter war tot. Wir brachten unsere Lebensmittel mit aufs Schiff, aufs Zwischendeck, und kochten auf Feuerstellen, die wir uns gebaut hatten. Ich war sechs, als wir herkamen. Mein Bruder hatte in Neuengland Fuß gefaßt, er arbeitete in der Fabrik. Ich ging zur Schule und konnte kein Wort Englisch. Die Kinder brachten ihr Mittagessen mit – damals war es meist Suppe-, und ich erinnere mich an einen Jungen, der ein Stück Fleisch in seiner Suppe hatte. Er machte ein Gesicht, als wollte er es fortwerfen, ach, Suppenfleisch, und ich war so hungrig auf dieses Stück Fleisch, daß es wehtat. Aber ich war zu stolz, ihn darum zu bitten. Er warf es weg, in den Schmutz. Ich sehe es noch immer da liegen.
Aber darum geht es jetzt nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Es geht um dieses Land. Mit vierzehn ging ich arbeiten; ich wirkte erwachsen. Abends ging ich aufs College; ich studierte Jura. Ich habe Erfolg gehabt, und das verdanke ich Amerika. Muß ich diesem meinem Land nicht Dankbarkeit und Loyalität entgegenbringen? Meine Enkelkinder spucken auf Amerika. Was hat Ihre Antigone damit zu tun? Hat ihr Land ihr solche Chancen geboten?«
»Wie viele Kinder haben Sie?« fragte Kate.
»Zwei. Mein Sohn fiel in Korea. Er war stolz darauf, in diesen Krieg zu ziehen. Meine Tochter lebt in Kalifornien. Ich bin siebzig. Meine Schwiegertochter ist – eine unglückliche Frau. Und nun bespuckt mein Enkel, vierundsechzig Jahre nachdem ich in dieses wunderbare Land gekommen bin, die Fahne, und meine Enkelin versteckt ihn vor dem Gesetz. Und Sie ermutigen sie noch?«
Kate fiel darauf keine Antwort ein. Sollte sie sagen, daß Haemon, Kreons Sohn, genau so mit seinem Vater gestritten und Sophokles das alles verstanden hatte, daß all das nicht neu war und nicht das Ende der Welt bedeutete? Würde er das verstehen? Kreon hatte eine Menge Probleme, aber übertriebene Dankbarkeit Theben gegenüber gehörte nicht dazu.
»Ich bin immer aufrichtig gewesen«, sagte der alte Mann. »Ich habe nie mein Geld für schlechte Zwecke verwendet.«
Das sagten ihre Brüder auch gerne. Wahrscheinlich stimmte es ja auch, aus ihrer Sicht. Aber wie steht es mit der Zeile aus den Sprüchen Salomons: »Wer aber eilt, reich zu werden, wird nicht ohne Schuld bleiben?« (Sprüche 28, 20) Immerhin, Mr. Jablon hatte sich tatsächlich beeilt, reich zu werden; er hatte kein Geld geerbt, für dessen Erwerb ein anderer gesündigt hatte, wie es für Angelica zutraf und für sie selbst, Kate Fansler.
»Ich sollte Ihre Zeit nicht mehr in Anspruch nehmen«, sagte er.
Kate schüttelte den Kopf. »Sie erweisen der Literatur die Ehre, sie ernst zu nehmen«, sagte sie, »aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen antworten soll. Ich möchte Ihnen die Ehre erweisen, ehrlich zu sein. In dem Stück macht Kreon die Erfahrung, daß er sich der Richtigkeit seiner Gesetze allzu sicher gewesen ist, daß er Gesetz und Ordnung überbewertet hat. Natürlich begreift er das zu spät, um das Leben seines Sohnes retten zu können oder das seiner Frau oder Antigones, die alle wegen seines Starrsinns sterben mußten.«
»Weil das Leben grausam ist; bedeutet das, daß er im Unrecht war?«
»Am Ende des Stückes weiß er, daß er unrecht hatte. Aber ich glaube, nur in Theaterstücken ändern alte Männer ihre Meinung.«
»Die Jungen haben also immer recht?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber ich glaube, daß sie heute, was diesen Krieg angeht, nicht unrecht haben.«
»Gut. Sie sind ehrlich gewesen. Meine Enkel schreien mich an. Finden Sie es richtig, daß sie einen alten Mann, ihren Großvater, anschreien?«
»Ich halte das für ein riesiges Kompliment. Es zeigt, daß ihnen Ihre Meinung wichtig genug ist, um mit Ihnen zu diskutieren und sie ändern zu wollen. Ich finde, Sie sollten das als Ehre ansehen.«
»Das ist keine Ehre. Man ehrt das Alter, indem man es respektvoll behandelt.«
»Nun ja«, sagte Kate, »noch ein Punkt, in dem wir nicht einer Meinung sind. Ich meine nicht Umgangsformen im Sinne von guten Manieren. Ich meine den Austausch von Gedanken, den Ausdruck von Gefühlen. Es tut mir leid. Ich konnte Ihnen keine Unterstützung bieten, ich weiß, aber ich habe keinen billigen Trost anbieten wollen. Das wäre leichter gewesen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Schauen Sie«, sagte Kate, »mal angenommen, Sie hätten um dieses Stück Fleisch gebeten. Mal angenommen, Sie hätten es gegessen, Ihren Hunger zugegeben, anstatt sich daran zu erinnern, wie das Fleisch im Staub lag. Wäre das so viel schlimmer gewesen?«
Zu Kates Überraschung schüttelte der alte Mann den Kopf und schaute weg. Wieder sah sie Tränen. »Es tut mir leid«, sagte sie und stand auf. »Ich werde Sie jetzt allein lassen.«
»Nein«, sagte er und erhob sich. »Gehen Sie nicht fort. Ich sollte mich nicht aufregen, nicht so emotional reagieren.«
»Also, auch in diesem Punkt bin ich nicht Ihrer Meinung«, sagte Kate. »Ich finde, Sie sollten sich aufregen, wenn es einen Grund dafür gibt. Schließlich sind wir Menschen, wie könnten wir sonst andere lieben?« Sie streckte dem alten Mann die Hand hin. »Auf Wiedersehen, Mr. Jablon. Wenn Ihnen eine ehrliche Auseinandersetzung nichts ausmacht, kommen Sie und besuchen Sie mich.« Als Kate das Zimmer verließ, wurde ihr bewußt, daß sie es ernst gemeint hatte.
»Das ist alles schön und gut«, sagte Kate später zu Miss Tyringham, »aber ich hatte gar nicht vor, so wichtig zu werden. Hätten Sie doch nur einen Altphilologen genommen! Der hätte etwas über Stichomythie von sich gegeben.«
»Arme Kate. Und nun hat Mr. Jablon dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt. Natürlich sind Sie nicht so empörte Eltern gewöhnt wie ich; und die Tatsache, daß man in vielen Punkten ihrer Meinung ist, macht es auch nicht gerade einfacher.«
»Genau das ist es«, sagte Kate. »Nichts ist so unbequem wie Verständnis für beide Seiten eines Problems. Das ist Ihre Antigone: auf beiden Seiten berechtigte Forderungen, die aber im Widerspruch zueinander stehen. An Mr. Jablons Situation ist so bedrückend, daß er ein Recht dazu hat, konservativ zu sein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er hat verdammt hart für alles gearbeitet, und er ist dankbar dafür, die Chance gehabt zu haben.«
»Und nun möchte er, daß alles sanft und reibungslos geht. Oh, das habe ich oft erlebt. Eltern begreifen so selten, daß Liebe harte Arbeit ist. Die sexuelle wie auch andere Formen der Liebe. Eines muß man dieser Generation lassen: Sie gibt zu, daß es diese anderen Formen gibt. Verdammt noch mal. Ich muß nur an meine Tagträume denken, dann weiß ich, daß wir hier am Theban ernste Probleme haben. Wenn ich anfange, mit dem Gedanken an ein Cottage in England zu spielen, wo ich im Garten werkeln und mit drei anderen verlorenen Seelen in einem Streichquartett fideln kann, weiß ich, daß die Dinge ernstlich aus dem Lot geraten sind.«
»Träumen Sie, soviel Sie wollen. Sowie Sie sich irgendwo zur Ruhe gesetzt haben, entsteht nebenan eine Riesenbaustelle oder ein Kraftwerk. Das habe ich schon oft erlebt.«
»Noch laufe ich nicht davon. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, daß Sie mit Mr. Jablon gesprochen haben; sonst wäre es natürlich an mir hängengeblieben. Soweit ich sehen kann, ist hier jeder sehr beeindruckt von Ihnen. Haben Sie nie daran gedacht, in irgendeiner Form fest am Theban zu arbeiten?«
»Wissen Sie, was Dickens geantwortet hat, als man ihn bat, für das Parlament zu kandidieren? ›Ich wüßte keinen Grund, weshalb ich Mitglied dieser außerordentlichen Versammlung werden sollte.‹ Sehen Sie, das ist das Gute an Zitaten: Man kann die Worte eines anderen benutzen, um zu beleidigen. Seien Sie mir nicht böse, aber wenn es mir gelingt, durch die nächsten zwei Monate zu stolpern, ohne geradewegs in den Generationenabgrund zwischen Angelica und ihrem Großvater zu stürzen, werde ich wie die Araber mein Zelt abbrechen und mich ebenso leise davonstehlen.«
Diejenige, die in diesen speziellen Generationenabgrund stürzte, war aber nicht Kate, sondern Angelicas Mutter. Man fand ihre Leiche am nächsten Morgen im Theban, und das Geheimnis der Hunde war kein Geheimnis mehr, sondern Thema für das ganze Land.
Das Theban war schon wegen Kriegen, Protesten gegen Kriege, Wirbelstürmen, Streiks und Stromausfall geschlossen worden. Nun schloß es wegen polizeilicher Ermittlungen.